Seit dem Jahr 2009 moderiere ich inzwischen fast wöchentlich etwa eine Retrospektive für ein agiles oder nicht agiles Team. Das macht in Summe ungefähr 250 Retrospektiven. Geschätzten 100 Retrospektiven habe ich in dieser Zeit als Beobachter oder Teilnehmer Retrospektiven beigewohnt. Dutzende Artikel und Bücher zum Thema gelesen. Gutes und schlechtes. Gesehen und gelesen.
Was ist eigentlich eine gute Retrospektive? Was muss ich tun, damit eine Retrospektive wirkt?
Es gibt viel Literatur in Büchern und Blogs, wie eine Retrospektive durchzuführen ist. Gute Literatur. Ganz besonders hervorzuheben sind hier die bekannten Klassiker: „Project Retrospectives“ von Norman Kerth und „Agile Retrospectives“ von Derby/Larsen. Aber auch die Bücher von Patrick Kua „The Retrospective Handbook“, Linders/Goncalves „Getting Value out of Agile Retrospectives“ sind immer wieder hilfreich. Nicht zu vergessen Corinna Baldaufs genialer Retr-O-Mat 🙂
Man findet hier tonnenweise Ideen um abwechslungsreiche und unterhaltsame Retrospektiven zu gestalten. Es geht hier aber zumeist um neue Ideen für Retrospektiven-Formate. Aber nicht jede unterhaltsame Retrospetive ist auch gut. Häufig genug habe ich Moderatoren erlebt, die mit ihren Teams in der Retrospektive viel Spaß hatten. Trotzdem bin ich mit einer gewissen Skepsis aus der Retrospektive herausgegangen.
In einer Retrospektive geht es nicht um Spaß! Natürlich kann Spaß hilfreich sein, um gewisse Ziele zu erreichen. Aber es ist nicht das Ziel selbst.
Das Ziel einer Retrospektive ist immer Verbesserung. Das Team muss in der Retrospektive die Möglichkeit bekommen, die gerade wichtigen und sensiblen Verbesserungspotentiale zu erkennen. Zudem erarbeitet es Optionen um aus eigener Kraft (!) kleine Schritte in Richtung dieser Verbesserung zu gehen. Das bedeutet dann: Eine Retrospektive ist genau dann erfolgreich, wenn sie das Team ein bisschen erfolgreicher macht.
Eine Retrospektive ist nichts anderes als eine Coaching-Intervention für ein Team. Eine Coaching-Intervention hat immer ein bestimmtes Ziel. Das Ziel ist es, dem Team neue Perspektiven zu eröffnen, es neue Handlungs-Optionen erarbeiten zu lassen, ihm zu spiegeln, wie seine Handlungen wirken. Welche Intervention in der aktuellen Situation mit dem bestehenden Team gerade geeignet ist kann man nie wissen. Ein guter Coach ist sich dessen bewusst, dass er immer nur Hypothesen über die aktuelle Situation des Teams haben kann und niemals eine objektive Sicht der Dinge.
Hypothesen leitet der Coach oder ScrumMaster aus seiner Beobachtung des Teams und seinem Bauchgefühl ab. Er macht sich bewusst, welche Hypothesen für ihn aktuell handlungsleitend sind und versucht diese Hypothesen möglichst bald zu verifizieren oder falsifizieren. Wie kann er das tun? Durch Gespräche. Experimente (Handlungen). Beobachtungen.
Aus den Hypothesen, die der ScrumMaster über sein Team hat, kann er – soweit er sich deren bewusst ist – dann auch geeignete Interventionen für eine gute Retrospektive ableiten. Zum Beispiel könnte der ScrumMaster die Hypothese haben, dass ein Team nicht die erwartete Qualität liefert. Er versucht nun in Gesprächen und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln diese Hypothese zu hinterfragen. Wird die Hypothese falsifiziert (beispielsweise durch hervorragende Sonar-Reports), sucht er nach neuen Hypothesen, was für das Team aktuell hilfreich sein könnte. Bestätigt sich die Hypothese, kann er beispielsweise in einer Retrospektive die nicht so großartigen Sonar-Reports an die Wand hängen und das Team damit konfrontieren. Das ist eine Coaching-Intervention. Spiegeln. Natürlich sollten man dann eine gute Idee haben, wie man mit dem Team daran arbeiten kann (hier hilft die oben genannte Literatur). Die Spreu vom Weizen scheidet sich aber nicht am „wie“, sondern am Bewusstsein über die Hypothesen.
Natürlich muss nicht jede Retrospektive ein bestimmtes Ziel wie Code-Qualität haben. Auch eine ganz offene Retrospektive kann unheimlich hilfreich sein. Wenn der ScrumMaster oder Coach mit seiner Hypothese, dass das in der aktuellen Situation die hilfreichste Intervention ist, richtig liegt!
Der Vollständigkeit halber: Es gibt keine richtigen und falschen Hypothesen. Kein „besser“ und „schlechter“. Der springende Punkt ist, dass sich der Coach sich seiner Hypothesen bewusst ist und diese handlungsleitend einsetzt. Und lernt. Wir arbeiten – wenn wir mit Menschen arbeiten – immer in komplexen Systemen. Es ist nicht vorhersagbar, was funktioniert und was nicht. Auch deshalb ist es wichtig, dass man in Retrospektiven flexibel ist und Raum gibt um Gutes entstehen zu lassen.
Woran erkenne ich jetzt aber ob eine Retrospektive erfolgreich ist?
In Einzel-Coachings erkenne ich den Erfolg eines Coachings relativ gut – wie ich meine – daran, wie häufig der Klient bei sich ist und einfach nur denkt. Er sieht dann häufig an die Decke, an mir vorbei oder aus dem Fenster. Genau das gleich gilt auch für Team-Coachings. Beobachtet die Reaktionen der Team-Mitglieder. Eine Retrospektive nimmt dann einen hervorragenden Lauf, wenn die Teilnehmer sich Gedanken machen, die sie sich vorher nicht gemacht haben. Das erkennt man an den eben beschriebenen Symptomen. Es ist sehr hilfreich, wenn man sich vor der Retrospektive bereits überlegt, woran man hinterher konkret (möglicherweise sogar messbar – z.B. „Anzahl der Bugs verringert sich“) festmachen kann, ob die Retrospektive hilfreich war.
Am Ende des Tages war die Retrospektive genau dann erfolgreich, wenn sie dem Team die Möglichkeit gegeben hat, einen Schritt vorwärts zu gehen in Richtung eines Ziels. Und das ist nicht unbedingt dann der Fall, wenn sie besonders unterhaltsam war.